Die Ostung mittelalterlicher Klosterkirchen des Benediktiner- und Zisterzienserordens

von Rudolf Eckstein, Franziskus Büll OSB und Dieter Hörnig

(Auszug des gleichnamigen Artikels in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Bd. 106, Heft 1, 1995, S. 7 bis 78)

I. Die Ostung der Kirchen nach dem Sonnenaufgang am Tag ihrer Patrozinien

(SMGB 106 [1995] 13-32)

Zur Berechnung der Aufgangswerte w der Sonne, also des Abstandes des Sonnenaufgangs vom Ostpunkt am Tage des Kirchenpatrons P (Titelheiligen) dient die Formel:


Dabei bezeichnet w den Winkel (die Aufgangsweite, Morgenweite, den Bogen, Abstand) zwischen dem astronomischen Ostpunkt und dem Aufgangspunkt der Sonne. Die Aufgangsweite w wird in Winkelgraden gemessen. Unter versteht man die Deklination der Sonne. Diese Deklination ist definiert als der sphärische Abstand der Sonne vom (Himmels-)Äquator. Dieser Abstand wird ebenfalls in Winkelgraden angegeben. Unter versteht man die geographische Breite des Beobachtungsortes.

Der Tag des Titelhelden P muß jedoch vermehrt werden um T = Tage, die der Julianische Kalender am Tag der Festlegung der Hl. Baulinie R hinter dem tatsächlichen Sonnenstand zurückgeblieben ist, also vor 1582. Den Julianischen Kalender mit den Tag- und Nachtgleichen am 21. März und 23. September übernahm die Kirche zur Zeit des Konzils von Nizäa im Jahr 325. Julius Cäsar führte 46 vor Christus als Durchschnittslänge 365,25 Tage (= 365 Tage und 6 Stunden) für das Sonnenjahr (= tropisches Jahr = bürgerliches Jahr) ein, weshalb alle 4 Jahre ein Schaltjahr nötig wurde. Die wahre Länge des Sonnenjahres (tropischen Jahres) ist jedoch 11 Minuten und 14 Sekunden kürzer als 365,25 Tage, was in 128 Jahren einen vollen Tag ergab. Deshalb ordnete Papst Gregor XIII. 1582 an, daß das Endjahr jedes Jahrhunderts nur dann ein Schaltjahr sei, wenn sich die ersten beiden Ziffern durch vier teilen lassen, also im Jahr 1600, nicht aber 1700, 1800 und 1900, wohl aber im Jahr 2000, 2400, 2800 etc. Das Jahr nach dem Julianischen Kalender, der 1582 abgelöst wurde, war also um 11 Minuten und 14 Sekunden zu lang als das tropische, d.h. "wirkliche" Jahr. Das bedeutete, daß am Ende des Jahres das Julianische Jahr noch andauerte, während das Gregorianische Jahr schon beendet war bzw. schon mit einem neuen Jahr begann. Das Julianische Jahr brauchte also länger, bis es vollendet war. Im Laufe der Jahre vergrößerte sich der Abstand zwischen dem tropischen und Julianischen Jahr immer mehr:

Wenn z.B. im Jahr 1582 das wirkliche Jahr bereits den 15. Oktober erreicht hatte, zählte das Julianische noch den 4. Oktober. Seit dem Konzil von Nizäa im Jahr 325 waren die Julianischen Jahre zum Jahr 1582 um 10 Tage zurückgeblieben, d.h. in 128 Jahren um einen Tag. So bezeichnete man im Jahr 430 den wirklichen 21. März noch als den 20. März.

Die Leiter der Bauhütte einer mittelalterlichen Kirche legten die Hl. Baulinie zum Baubeginn B der Kirche an "ihrem", d.h. nach dem Julianischen Kalender ausgerichteten Patronatstag fest, der zwar nominell im Julianischen wie im Gregorianischen Jahr auf den gleichen Kalendertag fällt, aber, da unter der Julianischen Jahreslänge stehend, hinsichtlich des wirklichen Kalenders de facto auf einen späteren Zeitpunkt trifft, als er treffen würde, wenn er von vorneherein im tropischen Jahr zu liegen gekommen wäre. Deshalb müssen dem Kalenderdatum des Titelheiligen so viele Tage hinzugezählt werden, die der Julianische Kalender hinter dem wirklichen Jahrestag zurückgeblieben ist, um die Deklination der Sonne am Tage des Titelheiligen für die Berechnung der Aufgangsweite w der Sonne am Gedenktag dieses Heiligen bestimmen zu können. Um z.B. die Aufgangsweite der Sonne an Mariä Himmelfahrt (15. August) um 1060 berechnen zu können, müssen dem 15. August laut Tabelle 1 noch sechs Tage hinzugezählt, muß also mit dem 21. August des Gregorianischen Kalenders gerechnet werden. Der Zahlenwert der Deklination ist der Ephemeridentafel zu entnehmen.

Der mittelalterliche Baumeister benutzte zur Bestimmung der Aufgangsweite w am Tag des Titelheiligen das Astrolabium und das Torquetum. Beide Geräte sollen bereits die Sonnenaufgänge für unsere Breiten eingearbeitet haben. Um mit Hilfe des Astrolabiums die Aufgangsweite ermitteln zu können, mußte der Baumeister erst den Ostpunkt ausfindig machen. Dies geschah offensichtlich mit dem sogenannten Indischen Kreis. Mit Sicherheit konnte man mit dem Astrolabium die für die Berechnung der Aufgangsweite w erforderliche Deklination der Sonne, also den sphärischen Abstand der Sonne vom Himmelsäquator, messen. Das Astrolabium, welches von Hipparch und Ptolemäus angewendet wurde, ist ein astronomisches Instrument für astronomische Winkelbestimmungen u.a. zur Messung von Längen und Breiten der Sterne. Innerhalb eines mit einer Kreisteilung versehenen Ringes dreht sich mit diesem konzentrisch ein zweiter Ring. Beide Ringe besitzen sogenannte Diopter aa und bb zur Durchsicht. Die Marken cc auf dem inneren Ring geben seine jeweilige Stellung innerhalb der Teilung des äußeren Ringes an. Sollten Höhenwinkel damit gemessen werden, so wurde es bei dem Ring d aufgehängt; der Zenitpunkt der Teilung wurde dann mit Hilfe des Lots ermittelt. Daneben gab es auch noch flache Viertelscheiben mit Gradeinteilung, um deren Mittelpunkt sich ein Diopterlineal, die sogenannte Alidade, drehen ließ. Mit dem Astrolabium und Torquetum und dem Indischen Kreis konnten die mittelalterlichen Baumeister jeden Sonnenaufgang auch im Gebirge auf den Höhen und in den Tälern auf die Horizonthöhe h = 0° zurückführen. Dies galt auch für die Kirchenbauten in den oft drangvoll engen und ummauerten Städten. Der wirkliche Sonnenaufgang konnte dort gar nicht vom Platz der zu erbauenden Kirche festgestellt werden.

Der eine Schenkel der Aufgangsweite w der Sonne korreliert mit der Achse, die vom Bauplatz zum astronomischen Ostpunkt läuft. Der andere Schenkel der Aufgangsweite w weist vom Bauplatz zum Sonnenaufgangspunkt hin. Dieser Schenkel gibt also die Richtung R, also die Hl. Baulinie, des Kirchenbauwerkes an, wenn die Kirche nur einem Titelheiligen geweiht ist. Liegen mehrere Titelheilige vor, also P1 + P2 + P3 +...PX' ergibt sich die Richtung R der Kirche aus dem Schenkel der addierten Aufgangsweiten w1 + w2 + w3...+ wx. Die geographische Breite kann, wenn nicht in einer Ortstabelle zu finden, aus jedem Kartenwerk auf Minuten genau errechnet werden. Sinus- und Kosinuswerte sind einem logarithmischen Tafelwerk zu entnehmen bzw. einem Taschenrechner mit Sinus- und Kosinustaste.

Beispiel: Wie groß war die Aufgangsweite (Morgenweite) w der Sonne am 20. Januar 1992 (Fest des hl. Sebastian) in Würzburg? Die Deklination beträgt laut Ephemeride am 20.1.1992 -20°20' = -20,33° (Winterhalbjahr); die geographische Breite in Würzburg = + 49°47'28' = + 49,791°

Die Aufgangsweiten w vom 21. März bis 22. September (Sommerhalbjahr) erhalten nach der obigen Formel vor dem Zahlenwert ein positives Zeichen und die Aufgangsweiten vom 23. September bis 20. März (Winterhalbjahr) ein negatives; die Aufgangsweite w für Sebastian am 20.1.1992 beträgt also in Würzburg = 32,56°.

Weist der Grundriß der Kirche einen Achsenknick auf, so wird er festgehalten mit R1 und R2. Bisweilen wird die Richtung R mit einer näheren Angabe (z.B. Südwand) für weitere Richtungsangaben benötigt.

Die Richtungsformel aller vor 1120/1125 erbauten Kirchen lautet somit:

Die Gleichung besagt also, daß die Richtung der Kirche (bis 1125) gleich dem Schenkel der Aufgangsweite w ist, der vom Bauplatz auf den Sonnenaufgangspunkt zuläuft. Diese Formel ist (bis jetzt noch) nicht durch ein schriftliches Zeugnis belegt. Offensichtlich haben die mittelalterlichen Baumeister die Richtungsformel 1 mit ins Grab genommen. Möglicherweise gehörte sie zu den (Zunft-?) Geheimnissen der früh- und hochmittelalterlichen Bauhütte. Die Gleichung ist jedoch auf induktivem Weg, d.h. experimentell anhand zahlreicher Belege erhärtet.

Die Auswertung der Baulinien frühmittelalterlicher Kirchen brachte noch ein weiteres Ergebnis zutage. In allen königlichen Eigenkirchen, seien es Pfalzkirchen, vom König gegründete Domkirchen, Königshofkirchen, wie auch Reichsklosterkirchen, sind in der Hl. Baulinie neben anderen Patrozinien immer die der beiden Reichspatrone Martin und Dionysius zu erkennen, sofern den Gotteshäusern bereits vor ihrer Grundsteinlegung diese Auszeichnung zuerkannt war und nicht erst nachträglich verliehen worden ist. In den Gründungs- und Weiheurkunden werden die beiden Patrozinien durchwegs nicht erwähnt, sie scheinen bei königlichen Gründungen einfach vorausgesetzt worden zu sein. Sie tauchen zuweilen als Titel der Kirche im Wechsel mit anderen Patrozinien auf. Die Hl. Baulinie aber bezeugt ihre reale Existenz. Zur Zeit der Karolinger, ab Karl dem Großen bis zum Tod Heinrichs V. (1125) bildeten in unseren Breiten diese beiden Patronzinien mit ihren Sonnenaufgangsweiten von rund -29° (Martin) -12° (Dionysius)= -41°+ X' die Basis der Hl. Baulinie einer jeden königlichen Kirche. Zu diesen königlichen Kirchen, welche die Sonnenaufgangsweiten der Festtage des hl. Martin (11. November) und des hl. Dionysius (9. Oktober) in ihre Baulinie integriert haben, gehören der Aachener Dom, Kornelimünster, in Nürnberg der Heidenturm, die Walpurgiskapelle, die Wolfgangskapelle, die Altenfurter Kapelle und die Jakobskirche in Fürth, die Feldkirche St. Martin, die Schwabacher Stadtkirche, die Weißenburger Martinskirche, die Kapelle auf der Veste Coburg, der Frankfurter Dom, der Dom zu Speyer, die Ruprechtskirche in Wien, in Roding die neue Pfarrkirche, in Altötting die karolingische Pfalzkapelle und die Stiftskirche, ferner die Klosterkirchen von Benediktbeuren, Ottobeuren und Münsterschwarzach, von den Bamberger Kirchen Alt-St. Martin, der Dom und die Michaelskirche. Die Erkenntnis, daß die Sonnenaufgangsweiten an den Festtagen der Reichsheiligen Martin und Dionysius in die Baulinie der vom König dotierten Pfalz-, Dom- und Klosterkirchen einbezogen wurden, kann offensichtlich nur auf induktivem Weg über das mathematische Experiment gewonnen werden. Ein königlicher Erlaß ist nicht bekannt. Offenbar war es ein fester Brauch, ein ungeschriebenes Gesetz, daß Königskirchen die Reichsheiligen als Nebenpatrone erhielten. Daß bei den fränkischen Königen aus dem Haus der Merowinger und Karolinger die beiden Reichsheiligen eine große Rolle gespielt haben, ist allgemein bekannt. So erfahren wir aus den Jahrbüchern Einhards zum Jahr 757: Zum Hofgut Conpendium (Compiegna) "kam auch Tassib, der Herzog der Baiern, mit den Großen seines Volks, und begab sich nach fränkischem Brauch, indem er seine Hände zwischen die Hände des Königs streckte, in die Dienstbarkeit des Königs, und gelobte durch einen Eid über dem Leib des heiligen Dionysius dem König Pippin und seinen Söhnen Karl und Karlmann Treue, und nicht nur hier, sondern auch beim Leib des heiligen Martinus und des heiligen Germannus versprach er mit gleichem Schwur den vorbenannten Herren die Tage seines Lebens die Treue zu bewahren". Walafried Strabo, der Abt von Reichenau, schreibt in seinem Libellus de exordiis et incrementis quarundam in oberservationibus ecclesiasticis rerum: "Dicti sunt autem primitus cappelani a cappa beati Martini, quam reges Francorum ob adiutorium victoriae in proeliis solebant secum habere, quam ferentes et custodientes cum ceteris sanctorum reliquiis clerici capellani coeperunt vocari". L.S. von Wölckern berichtet in seinen Singularia Norimbergensia (Nürnbergische Altertümer) sehr ausführlich über die Verehrung der Heiligen Martin und Dionysius durch die fränkischen Könige, sowie über die von den fränkischen Königen errichteten Martinskirchen. Wölckern zitiert aus dem vierten Buch Aventins, daß "nach Gewonheit der Fränckischen Könige, des heiligen Dionisii und Martins Heiligthum und Chor Kappen mit sich geführet". Es ist wiederum Aventinus, der berichtet: "Alda paut diser zeit etlich kirchen herzog Pipis im Obern Baiern, ... alda er überall S. Dionysi, der künig in Frankreich patron, kirchen hat pauen lassen". Aus diesen zwar dürftigen schriftlichen Quellen ergibt sich zumindest der Hinweis, daß die fränkischen Könige ihre Kirchen den Reichsheiligen Martin und Dionysius geweiht haben könnten.

II. Die Ostung der Kirchen nach der Mißweisung (magnetischen Deklination D) der Magnetnadel nach dem Jahr 1125

(SMGB 106 [1995] 32-39)

III. Die Ostung der Kirchen nach dem Sonnenaufgang am Tage ihrer Patrozinien, ausgehend von der magnetischen Mißweisung

(SMGB 106 [1995] 40-41)


(5.) Die Klosterkirchen Münsterschwarzachs in Franken

A) Die Martin, Dionysius und Benedikt geweihte Karolingerkirche

In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts (788 (?)) wurde das Frauenkloster Münsterschwarzach unter Mitwirkung Fastradas, der dritten Gemahlin Karls d. Großen, von Angehörigen des zur Reichsaristokratie gehörenden Geschlechts der Mattonen gegründet. Es bestand bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts (877 (?)). Äbtissinnen: Theodrada, Tochter Karls d. Großen und Fastradas, Hildegard und Bertha, Töchter Ludwigs des Deutschen. 1935 wurden Reste der Karolingerkirche im Bereich des Südost-Turmes der heutigen Boßlet-Kirche (Baujahr 1935-1938) entdeckt. Unter zwei Steinkistengräbern, die um 1200 in der Egbert-Basilika angelegt wurden, zog sich eine ca. 8,60 m lange Mauer, die als Fundament einer Querhaus-Nordwand gedeutet wird. Diese Mauer wiederum durchschnitt das Fundament eines Rundturmes, der somit noch älter sein muß (s. Abb. 2 und 3: Nr.16 die beiden Steinkistengräber, Nr. 17a die Querhausmauer, Nr.18 der Rundturm). Westlich von diesem Befund tauchte ein etwa ebenso langer Mauerzug auf, der als Fundament der Nordwand eines Langhauses verstanden wird (s. Abb. 1 und 3: Nr.22). Von der Mittelachse der jetzigen Abteikirche weicht die Richtung des Querhauses (Mauer Nr. 17a) um 6° und die Richtung des Langhauses (Mauer Nr.22) um 3°nach Süden ab.

Nach dem Auszug aus dem Katasterkartenwerk Flurkarte NW 80-42-13 (Maßstab 1:1000), Gemarkung Münsterschwarzach vom 14.2.1986, ist R (Richtung) der Boßlet-Kirche aufgrund der im Katasterkartenwerk angegebenen Orientierungspunkte (s. Abb. 1 -1,5°. Das bedeutet, daß R der Querhausmauer (Nr. 17a) -7,5° und R der Langhausmauer (Nr.22) -4,5° beträgt. Nach Auskunft (vom 3.4.1993) durch den jetzigen Leiter des Baubüros der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, Br. Balduin Weth OSB, der 1935 als Mitarbeiter des Baubüros die beim Erdaushub für den Bau der Abteikirche aufgetretenen archäologischen Mauerreste vermaß und den Riß "Ausgrabungen alter Klosteranlagen der Abtei Münsterschwarzach" (s. Abb. 2 Auszug) zeichnete, konnte R des noch gut erhaltenen Mauerwerks der Querhausmauer (Nr. 17a) mit dem Schnurgerüst genau bestimmt werden. Anders sei es jedoch mit der nördlichen Langhausmauer (Nr.22) gewesen. Diese Fundamentreste hatten keine scharfen Konturen. Man konnte zwar deutlich erkennen, daß der Winkel zwischen R der Langhausmauer und R der Boßlet-Kirche deutlich kleiner war als der Winkel zwischen R der Querhausmauer und R der Boßlet-Kirche, eine genaue Richtungsangabe war jedoch nicht möglich. Deshalb wurde auch nur eine Linie gezeichnet (s. Abb. 2), welche die ungefähre Richtung angibt. Für R der Querhausmauer (herausgemessene R = -7,5° [s. oben]) ergeben sich bei T = 4,5 (entspricht dem Jahr 875) und einer geographischen Breite von 49°47'7" folgende Patrozinien:

P1: Martin 11. November: w1 = -29,632612°
P2: Dionysius 9. Oktober: w2 = - 12,383119°
P3: Benedikt 11. Juli: w3 = 34,483997°
R Querhausmauer = - 7,531734° (=7°31,9')

Nach dem Tod der Äbtissin Bertha im Jahr 877 wurde Münsterschwarzach ein bischöfliches Kloster. Bereits 853 verläßt Äbtissin Hildegard Münsterschwarzach und zieht in das Nonnenkloster St. Felix und Regula in Zürich. Nach ihrem Tod (zwischen 856 und 859) übernimmt Bertha das Frauenkloster in Zürich. Möglicherweise folgten ihr die Nonnen aus Münsterschwarzach nach. Offensichtlich haben bereits in der Mitte der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts die Benediktiner aus Megingaudshausen am Laimbach in Mittelfranken das nun verwaiste Nonnenkloster übernommen. Offenbar war die Nonnenkirche für den Konvent mit etwa 45 Mönchen zu klein. Der wohl zum Langhausschiff als zunächst selbständiger Kirche gehörige Glockenturm - möglicherweise freistehend wie die Türme der Kirche des St. Galler Klosterplans - wurde eingelegt. An das Längsschiff der Nonnenkirche wurde ein Querhaus mit Chor angefügt. Möglicherweise ruhte in dem im Chorraum aufgestellten Sarkophag, der 1949 beim Aushub für den jetzigen Ostbau gefunden wurde, der Priester Amal.

Wie bereits oben gesagt, konnte 1935 die Richtung der nördlichen Langhausmauer nicht genau festgelegt werden. Der im Riß "Ausgrabungen alter Klosteranlagen der Abtei Münsterschwarzach" angegebene Winkel von -4,5° (s. Abb. 6b) stellt nur eine grobe Richtungsangabe dar. Die folgende Tabelle 1 gibt die Verschiebung der Richtung R für die Patrozinien Martin (M, 11. Nov.), Dionysius (D, 9. Okt.) und Benedikt (B, 11. Juli) innerhalb eines Zeitraumes von 625 bis 875 wieder. Die Tabelle zeigt, daß der Winkel von -4,5° auf eine Jahreszahl noch vor 625 hindeutet (bei T = 2,25 entspr. Jahreszahl 592, ist der Winkel -4,6°). Dies ist völlig auszuschließen. Um die genaue Jahreszahl des Baubeginns der Nonnenkirche erhalten zu können, wird man bei zukünftigen Grabungen im Nordost-Bereich des Klausurgartens (Quadrums) ein großes Augenmerk auf die exakte Richtung der radiometrisch ermittelten südlichen Längsmauer werfen müssen. Die Tabelle zeigt jedoch, daß der Baubeginn im 8. Jahrhundert liegen muß, da im 9. Jahrhundert statt der von Br. Balduin Weth OSB - wenn auch ungenau (s. oben) - gemachten Winkelangabe von (-3° +[-1,5°] =) -4,5° ein Wert von ca. -6,5° bis -7,5° vorliegen müßte. Dieser Wert von -6,5° bis -7,5° wiche jedoch zu weit von dem Wert -4,5° ab. Damit nämlich näherte sich die Richtung der Langhausmauer (Nr.22) der Richtung der Querhausmauer (Nr. 17a) (=-7,5°). Die Richtung der Langhausmauer (Nr.22) hatte jedoch eine eindeutig kleinere Richtung als die Richtung der Querhausmauer (Nr. 17a). Da bei einem Erweiterungsbau die Patrozinien nicht geändert werden und da die Mönche aus Megingaudshausen von sich aus die Patrozinien der Reichsheiligen Martin und Dionysius nicht eingeführt haben - die Verleihung war für unseren Zeitraum dem karolingischen Königshaus vorbehalten - mußte bereits die Kirche des Nonnenklosters die Patrozinien Martin und Dionysius (und Benedikt) gehabt haben.

Durch die Position des Sarkophags, der 1949 beim Aushub des Erdreichs für die Errichtung des Ostbaus des Klaustrums (Quadrums) entdeckt wurde, läßt sich möglicherweise doch noch die Richtung des Kirchenschiffes rekonstruieren. Auf der Abbildung 6c nimmt das Kirchenschiff die Lage ein, wie sie 1935 Br. Balduin Weth OSB durch die von ihm vorgenommene Eintragung der Richtung der nördlichen Längsmauer vorgegeben hat, d.h. -3° bezogen auf die Mittelachse der Neumann- bzw. Boßlet-Kirche und -4,5° auf den Ostpunkt. Dieser Winkel gibt jedoch, wie schon gesagt, nur eine grobe Richtung wieder, die nicht dem tatsächlichen Winkel entsprechen muß, ja sogar wegen T = 2,225 auszuschließen ist. Wird aber die Richtung des Kirchenschiffes um 1,5° nach Süden geschwenkt unter Beibehaltung des vorgegebenen Nordwestpunktes, so daß damit R des Kirchenschiffes bezogen auf die Achse der Boßlet-Kirche einen Winkel von -4,5° und auf den absoluten Ostpunkt von -6° erhält, dann verläuft, wie Abbildung 6c zeigt, die Mittelachse des Kirchenschiffes des Nonnenklosters und die sich nördlich davon im Knick anschließende Mittelachse des Querhauses und des Chores durch den Sarkophag im Zentrum des Chores. Der Knickwinkel zwischen Kirchenschiff und Querhaus mit Chor beträgt dann nicht mehr 3°, sondern nur noch 1,5°. Das Vierungsquadrat bleibt jedoch erhalten. R = -6° für das Kirchenschiff bedeutet ein T zwischen 3 1/2 und 3 3/4 und damit die Zeit der Grundsteinlegung für das Jahr 780.

Zusammenfassung zur Rekonstruktion des Grundrisses der Martin-, Dionysius- und Benediktkirche in Münsterschwarzach

Bau des Kirchenschiffes um 780
Bau des Querhauses um 880


I. Die faktischen Vorgaben:

1. Die Linie Nr.22, d.h. die hinsichtlich der Richtung ungenaue Nordwand Nr.22 des Schiffes, auf dem Plan angegeben mit (-3°) + (-1,5°) = -4,5° (-4,5° = Abweichung vom Ostpunkt nach Süden; -3° = die 1935 von Br. Balduin Weth OSB angegebene, jedoch nicht mehr genau von ihm feststellbare Richtung der Nordwand Nr.22; -1,5° = Richtung der jetzigen Boßlet-Kirche).

2. Richtung der nördlichen Querhausmauer (-6°)+(-1,5°) = -7,5°

3. Position des Sarkophags.

II. Die hypothetischen Vorgaben

1. Das Querhaus besaß eine exakte Vierung.

2. Der Sarkophag im Chor steht auf der nach Osten verlängerten Mittelachse der Vierung.

III. Folgerungen:

1. Mauer Nr.22 und damit die zu ihr parallel verschobene Mittelachse des Kirchenschiffes muß um -1,5° nach Süden geschwenkt werden (Drehpunkt: Nordwesteck des Schiffes) und erhält damit eine Abweichung nach Süden um:

(-3°) + (-1,5°) + (-1,5°) = -6°

2. Der Querhausbau mit Rechteckchor, der um 880 an das um ca. 100 Jahre ältere Kirchenschiff angeführt wurde, wich hinsichtlich seiner Mittelachse von (der gedachten Verlängerung) der Mittelachse des Schiffes (nach Osten) um weitere -1,5° = -7,5° -(-6°) ab, d.h. die um das Querhaus erweiterte Kirche besaß einen Knick.

IV. Kurzkommentar

Die Richtung der Nordwandmauer Nr.22 des Kirchenschiffes konnte 1935 nicht mehr genau festgestellt werden. Ihr Winkel zur Mittelachse der Boßlet(und Neumann-)Kirche war jedoch laut Mitteilung von Br. Balduin Weth OSB eindeutig kleiner als der Winkel der exakt mit dem Schnurgerüst ausgemessenen Querhausmauer Nr. 17a. Von daher ist der Knick in der Kirche eindeutig gesichert. Er ergab sich aus der Neuorientierung des Erweiterungsbaues, also des Querhauses. Die Neuorientierung des Querhauses war notwendig, weil die Erweiterung in ein noch ungeweihtes Gelände vorgenommen wurde. Die Abweichung selbst basiert auf der Ungenauigkeit des Julianischen Kalenders.

Flurkarte

Riß

Lage

Tabelle 1


Zum Anfang der Seite

Zurück zur Geophysik in der Abtei Münsterschwarzach

26. Juni 1998,
html by H. Ulmer (email)